Stellungnahme der Bundesinitiative der Betroffenen von sexualisierter Gewalt und Missbrauch im Kindesalter (BI) zur Studie "Sexuellen Missbrauch des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen" (KFN) und den Aussagen von Christian Pfeiffer
Sehr geehrte Damen und Herren, mit Befremden haben wir das Ergebnis, der am 18. Oktober 2011 der Öffentlichkeit vorgestellten KFM-Studie und die Aussagen von Herrn Christian Pfeiffer (Leiter KFN) und von Frau Ministerin Annette Schavan (BMBF) zur Kenntnis genommen. Der Vorstand der Bundesinitiative (BI) der Betroffenen von sexualisierter Gewalt und Missbrauch im Kindesalter kann weder das Ergebnis der Studie, noch die gemachten Aussagen als zutreffend bestätigen. Die BI kann die Studie anhand der bisher veröffentlichten Fakten nicht als repräsentativ anerkennen. Auszug der Aussage von Frau Ministerin Schavan – PM des BMBF vom 18.10.2011: "Im Vergleich zu der Situation vor fast 20 Jahren ist ein deutlicher Rückgang bei Fällen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen" Die Anzeigebereitschaft der Opfer sei deutlich gestiegen. "Während in den 80er Jahren im Durchschnitt nur etwa jeder zwölfte Täter damit rechnen musste, dass er zur Verantwortung gezogen wird, trifft es heute jeden Dritten." ʺWir sind schockiert über diese Aussage, die sich weder mit unseren Erfahrungen und den Informationen deckt, die uns täglich erreichen, noch mit denen, über die Frau Dr. Christine Bergmann und ihre Mitarbeiter in der telefonischen Anlaufstelle berichten! Der Bundesinitiative sind zahlreiche aktuelle Fälle bekannt, die deutlich zeigen, dass es weder einen Rückgang des sexuellen Missbrauchs an Kindern gibt, noch dass es für Betroffene Opfer leichter ist, ihre Täter anzuzeigen. Eher ist es für die Opfer noch problematischer geworden, gegen die Täter vorzugehenʺ so Kathrin Radke, Vorsitzende der BI. Zudem sagt die Anzahl der Anzeigen nichts darüber aus, wie viele der Täter letztendlich zur Verantwortung gezogen werden. Neben den bekannten Problemen (z.B. Verjährungsfrist, Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Opfer, Verleugnungen, Verleumdungen u.a.) werden die Opfer verstärkt auch von öffentlichen Behörden (Jugendämter, Stadtverwaltungen u.a.) abgewiesen, genötigt oder als Schuldige dargestellt. Auch Drohungen (sogar Morddrohungen) und Angebote von Schweigegeldzahlungen sind nicht selten. Noch immer müssen wir häufig feststellen, dass es an der Tagesordnung ist, Kindern, welche sich ihren Vertrauenspersonen öffnen, nicht zu glauben! Täter werden weiterhin geschützt, indem man die Opfer zur Beweispflicht heranzieht. Zahlreiche Fakten können dies belegen. Die Wege, die Betroffene gehen müssen, nachdem sie ihren Täter angezeigt haben, sind für Erwachsene schon fast unerträglich und viele geben irgendwann auf. Kindern kann man diesen Prozess gar nicht zumuten! Auszug der Aussage von Christian Pfeiffer (Leiter KFN) – n-tv 18.10.2011
Bei der repräsentativen Befragung von rund 11.500 Menschen zwischen Januar und Mai diesen Jahres berichteten 6,4 Prozent der Frauen und 1,3 Prozent der Männer von einem Missbrauch mit Körperkontakt vor ihrem 16. Geburtstag. Verglichen mit einer KFN-Studie von 1992 seien die Zahlen gesunken, sagte Pfeiffer. Damals hatten 8,6 Prozent der Frauen und 2,8 Prozent der Männer einen Missbrauch mit Körperkontakt bis zum 16. Lebensjahr angegeben. Jedoch war die Datenbasis damals mit 3300 Befragten kleiner. Erstaunliches Ergebnis der neuen Befragung: Nur eine einzige Person - eine 28 Jahre alte Frau - gab einen Missbrauch durch einen katholischen Priester an. Die Autoren der neuen KFN-Studie sehen darin keinen Widerspruch: "Bei den Opfern solcher Taten, die sich 2010 oder auch 2011 gemeldet haben, handelt es sich zu einem sehr großen Anteil um über 50-Jährige, deren Opfererfahrung mehr als 35 Jahre zurückliegt." Die nun Befragten waren mit 16 bis 40 Jahren deutlich jünger. Pfeiffer erklärte, ältere Jahrgänge seien nicht befragt worden. Auch diese Aussage zweifelt die Bundesinitiative der Betroffenen von sexualisierter Gewalt und Missbrauch im Kindesalter an! ʺDer BI und ihren Mitgliedervereinen sind zahlreiche Fälle bekannt (auch neue Fälle), bei denen das Opfer Alter zwischen 16 bis 40 Jahren liegt. Allein dem BI-Mitglied ʺAufklärung e.V.ʺ sind rund 1000 Fälle bekannt, bei denen das Opferalter zwischen 16 und 40 Jahren liegt. Wenn man die Anzahl der Befragten in der KFN-Studie zugrunde legt, sind dies alleine schon rund 9 %ʺ, so Michael Ermisch, Vorstand der BI. Die Statistik des Statistischen Bundesamtes belegt, dass die Zahl der wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Straftäter in den vergangenen 20 Jahren um zwölf Prozent zugenommen hat. Seit 2007 wurden bundesweit 2185 Täter wegen Kindesmissbrauchs verurteilt. Die Bundesinitiative kritisiert die Formulierungen der Fragen der Studie auf das Schärfste! In den Fragen drei und vier wird doch tatsächlich gefragt: ʺob Berührungen stattfanden, die den Täter oder das Opfer sexuell erregt habenʺ. Mit einer solchen Fragestellung wird das Opfer gedemütigt und eine solche Vorgehensweise stellt eine Missachtung der gesamten Arbeit des Runden Tisches und der Opferhilfe in Frage. Dies werden wir als BI nicht tatenlos hinnehmen und tolerieren. Abgesehen von allen Feststellungen zur Repräsentanz der Studie, halten wir die von Herrn Christian Pfeiffer gewählte Formulierung: „Entgegen aller Erwartungen geht der Missbrauch von Kindern in Deutschland drastisch zurück“ im Hinblick auf die in den vergangenen 1 ½ Jahren bekannt gewordenen Zahlen und Fakten nicht nur für unangemessen, sondern sogar für schädlich. Wie Frau Dr. Christine Bergmann mitteilte, haben über 20.000 Opfer mit der Geschäftsstelle Kontakt aufgenommen, noch jetzt sind es täglich 30-50. Ihnen vermittelte man durch die Arbeit des Runden Tisches und der Geschäftsstelle das Gefühl, dass sie mit ihrem Schicksal nicht mehr allein sind und dass ihr Sprechen wichtig ist. Die Aussage von Herrn Pfeiffer aber deutet genau das Gegenteil an und wird viele der Betroffenen zum Resignieren bringen, da sie sich wieder als Einzelfall fühlen und ihrer Wahrnehmung nicht mehr trauen. Sie werden es unterlassen sich zu öffnen, sie werden es unterlassen, nach Hilfe zu suchen – und die Prozentzahlen der Statistiken werden sinken, jedoch nicht im Sinne der Verbesserung der Situation für die Betroffenen. Der Vorstand der Bundesinitiative der Betroffenen von sexualisierter Gewalt und Missbrauch im Kindesalter und ihre Mitglieder fordern in diesem Zusammenhang, neben der kompletten Offenlegung der KFN-Studie und der Offenlegung nach welchen Kriterien das Kriminologische Forschungsinstitut die Betroffenen ausgesucht hat, u.a. Folgendes: Die Einbeziehung der Bundesinitiative der Betroffenen von sexualisierter Gewalt und Missbrauch im Kindesalter bei der Erstellung derartiger Studien; Die sofortige Aufhebung der Verjährungsfrist bei Straftaten von sexualisierter Gewalt und Missbrauch im Kindesalter; Die umgehende Bereitstellung von Fördermitteln, für die Arbeit von Vereinen/ Organisationen die im Bereich Bildung und Erziehung in der Kriminalitätsprävention tätig sind. Dazu gehört auch eine unbürokratische und zeitnahe Bearbeitung der Förderanträge.